An der Nordseite des Osteroder Marktplatzes, dem Kornmarkt, steht eines der beeindruckensten Fachwerkhäuser der Stadt. Erbaut wurde es 1610 für den Juristen Prof. Andreas Cludius, an den auch heute noch die Wappen und die Figuren „Justitiar“ und „Clementia“ über dem Torbogen erinnern. Das große Bürgerhaus, ein viergeschossiger Bau weist als Besonderheit für ein historisches Wohngebäude die steinernen unteren Geschosse auf. Das Rundbogenportal und die Fenstergewände sind mit aufwendigen Steinmetzarbeiten der Spätrenaissance verziert. Die stattlichen Ausmaße und vor allem die Höhe des Hauses fallen beim Blick über den Kornmarkt jedem Betrachter sofort ins Auge. Die Obergeschosse mit eigentlich schlichtem Fachwerk, ihren aber auffälligen grünen Fenstern und rotbraunen Balken, sind ein richtiges Schmuckstück auf dem Osteroder Marktplatz und damit ein beliebtes Fotomotiv.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts richtete man in dem zentral gelegenen Gebäude eine Gaststätte unter dem Namen „Stadt London“ ein. Am Ende des Jahrhunderts gehörte es dem bekannten Osteroder Wollwarenfabrikanten Johann Friedrich Greve jedoch ohne Nutzung als Gasthof. Anfang des 19. Jahrhunderts dann wurde das Haus als Gasthof „Englischer Hof“ genutzt, in dem vor genau 200 Jahren Heinrich Heine auf seiner Harzreise übernachtetet haben soll. Es muss ein wunderschöner Gasthof gewesen sein, denn Heine schrieb über seine Unterkunft „Die liebe, goldene Sonne schien durch das Fenster und beleuchtete die Schildereien an den Wänden des Zimmers“ und „Nachdem ich Kaffee getrunken, mich angezogen, die Inschriften auf den Fensterscheiben gelesen (…) hatte.“ Der Englische Hof verfügte über einen großen Saalbau, der sich über die ganze Breite des Grundstücks bis zur Schildwache erstreckte. In dem Saal fanden 400 Personen bei Theater- und Konzertaufführungen sowie gesellschaftlichen Anlässen Platz. Durch einen Brand wurde dieser Saalbau jedoch 1900 vernichtet. Später errichtete man anstelle des abgebrannten Saalbaus hinter dem Haupthaus Neubauten, die als Pferdestall und Wagenremise dienten. Darüber hinaus legte man eine Kegelbahn an und in den rückwärtigen Bauten noch mehrere Gästezimmer und einen kleineren Saal an. In diesem wurde schon vor dem 1. Weltkrieg das erste Osteroder Kino eingerichtet. In den Sommermonaten befand sich zwischen Stadtmauer und den Gebäuden ein Biergarten bzw. Gartenrestaurant. Zu Beginn des 1. Weltkrieges benannte man den Englischen Hof in „Bürgerhof“ um. Durch den im Krieg zurückgehenden Hotelbetrieb verkaufte der letzte Wirt das Gebäude 1917 an den Kaufmann Wolfgang Rinne, der hier eine Eisenwarenhandlung einrichtete. Die Rud. Rinne GmbH wurde im Jahr 2000 aufgegeben.
Heute beherbergt das Haus im untersten Geschoss ein Bekleidungsgeschäft sowie einen Optiker, in den oberen Etagen Wohnungen. Seit 2008 nutzt auch die Freimaurerloge wieder die Räume am Kornmarkt. Die sogenannten Rinne-Passage (Rinnehof), die man durch den runden Torbogen vom Marktplatz als auch von Seiten der Stadtmauer erreicht, befinden sich heute das Restaurant „Brasserie“, ein Reisebüro, ein Modegeschäft sowie ein Obst- und Gemüsehändler.
Wappen und Figuren „Justitiar“ und „Clementia“ über dem Torbogen sowie aufwendige Steinmetzarbeiten der Spätrenaissance an Fenstergewänden und Rundbogenportal
Foto: © Stadt Osterode
Ansicht des Kornmarkts mit Englischem Hof, (später: Rinnesches Haus, Kornmarkt 12), Marktbrunnen und Kirchturm der St. Aegidien Marktkirche mit altem Turmaufsatz, Ecke Jöddenstraße (Aegidienstraße) / Gemüsemarkt (Martin-Luther-Platz) mit alter Bebauung vor dem Brand am 7. Mai 1882, um 1870.
Quelle: Stadtarchiv Osterode, Foto 10-01-113-073
Postkarte mit farbiger Zeichnung des Englischen Hofs (später: Rinnesches Haus, Kornmarkt 12) und dem Gartenrestaurant zwischen Kornmarkt und Schildwache, um 1900.
Quelle: Stadtarchiv Osterode, Foto 10-01-113-191